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Anselm – seltsam, aber liebenswert

Hans Sillescu

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Vor vielen Jahren, als man noch Liebesbriefe mit der Post verschickte, hatte ich eine witzige Idee. Ein nicht mehr ganz junger Mann, mit etwas verknittertem Gesicht, aber grosen, sprechenden, etwas vertraumten Augen, verschickt einen Liebesbrief. Er ist klein, von, sagen wir, schmachtiger Statur und der unsportlichen Haltung des typischen Buromenschen. Seine sorgfaltig gescheitelten, etwas schrag zur Seite gekammten Haare passen zu einer fast zu korrekten Kleidung, wie sie im unteren Mittel der Angestelltenhierarchie einer Grosbank selbstverstandliche Pflicht ist. Vielleicht ist er aber auch Buchhalter, einer der alten Schule, in der es selbstverstandlich war, dass ein Buchhalter sich nicht verrechnete. Dieser Mensch, nennen wir ihn Anselm seiner vertraumten Augen wegen, steht neben einem etwas zu hoch hangenden Postbriefkasten und steckt seinen dunnen rechten Arm in den rechten Briefkastenschlitz – so grundlich, dass die Hand mit dem Liebesbrief auf der linken Seite des Kastens wieder herausschaut und der Brief mit absoluter Sicherheit neben dem Kasten landen wird, wahrend die vertraumten Augen, etwas abwesend, in die andere Richtung blicken.

https://doi.org/10.1007/978-3-662-48124-0_19