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Volkmar Felsch
Otto Blumenthal: Hilberts Lebensgeschichte
Mehrere Mitarbeiter nahmen an der Veroffentlichung von Hilberts Gesammelten Abhandlungen (Hilbert 1932, 1933, 1935) teil. Der dritte und letzte Band enthalt zwei Essays, geschrieben von seinen ehemaligen Assistenten Ernst Hellinger und Paul Bernays: Das erste ist eine breitere Darstellung uber Hilberts Beitrage zur Integralgleichungstheorie (Hilbert 1935, 94–155), wahrend das zweite Hilberts Arbeiten zur Grundlegung der Mathematik (Hilbert 1935, 196–215) gewidmet war. Dieser dritte Band schloss mit dem in diesem Kapitel abgedruckten biographischen Aufsatz aus der Feder von Otto Blumenthal (Blumenthal 1935).
Der Kongress in Bologna: Hilbert vs. Brouwer (1927–1928)
Die Teilnahme deutscher Mathematiker an dem Internationalen Mathematikerkongress in Bologna blieb bis zur Eroffnung eine heis umstrittene Frage. Eine offizielle Einladung an die Deutsche Mathematiker-Vereinigung (DMV) fuhrte zu einer Debatte innerhalb des Ausschusses, an der Otto Blumenthal direkt beteiligt war. Viele deutsche Mathematiker wollten sich voll und ganz von der Union Mathematique Internationale (UMI) distanzieren, weil sie nach wie vor die seit 1919 bestehende Boykottpolitik vertrat.
Verfolgung und Ausgrenzung (1930–1942)
Bei den Rektoratswahlen 1930 kandidierte Otto Blumenthal fur das Amt des Rektors der TH Aachen. Die beiden folgenden Briefe von Heinrich Brandt an seinen ehemaligen Aachener Kollegen Erich Trefftz zeigen noch einmal deutlich, wie sehr, und zwar schon lange vor 1933, die akademische Atmosphare von Antisemitismus durchdrungen war (siehe dazu auch Band I, Abschnitt 1.8 und 4.2).
Die Annalen-Krise: Hilbert vs. Brouwer (1928–1929)
Vermutlich erfuhr Blumenthal zum ersten Mal von Brouwer selbst, dass Caratheodory einen Versuch unternommen hatte, Hilberts drastische Mitteilung vom 25. Oktober irgendwie zu mildern. In einem personlichen Gesprach mit Brouwer in Laren wollte der Grieche ihm erklaren, dass aufgrund Hilberts Gesundheitszustand eine ruhige Diskussion mit ihm uber diese Thematik unmoglich sei. Die Anregung zu diesem Besuch, der am 30.
Exil und Deportation (1939–1944)
Am 19. Oktober 1939 konnten die Blumenthals ihr vorubergehendes Quartier im Haus Zuilenveld verlassen und in eine richtige Wohnung nach Delft umziehen. Ihre Situation am Ende des Jahres beschrieb Otto Blumenthal in einer Silvesterkarte an David und Kathe Hilbert.
Blumenthal über Hilbert zu seinem 60. Geburtstag
David Hilbert feierte am 23. Januar 1922 seinen 60. Geburtstag. Richard Courant engagierte sich stark bei den Vorbereitungen eines stimmungsvollen Festes, zu welchem weit uber hundert Gaste kamen, u.a. Ferdinand Springer aus Berlin. Ursprunglich plante auch Einstein dabei zu sein, zumal er brennendes Interesse hatte, seine Deutung des neuen Ergebnisses bei dem Einstein-Geiger-Kanalstrahlenexperiment mit den Gottingern Physikern Max Born und James Franck zu diskutieren.
Ein Leben für die Mathematik: Otto Blumenthal (1919–1944)
Otto Blumenthals mathematische Karriere fing sehr vielversprechend an, vor allem in Hinblick auf die vielen Anregungen und breiten Kenntnisse, die er wahrend seiner Jahre in Gottingen gewann. Nach seinem Studium und einer relativ kurzen Zeit als Privatdozent dort wurde er schon 1905 an die TH Aachen berufen. Er war damals noch nicht 30 Jahre alt, und wie viele andere junge Mathematiker strebte er eine Professur an einer deutschen Universitat an.
Neue Spannungen in den Nachkriegsjahren (1919–1923)
Im Fruhjahr 1919 nahm Hilbert als Gutachter an einem Berufungsverfahren fur eine Professur in Bern teil. Es stellte sich dabei als schwierig heraus, einen geeigneten Kandidaten zu gewinnen. Dies brachte Hilbert auf die Idee, sich selbst als Kandidat fur die Stelle ins Spiel zu bringen.
Konflikte in der Annalen-Redaktion (1924–1927)
Erich Trefftz, der nach dem Krieg Blumenthals Kollege in Aachen wurde, ging schon 1922 nach Dresden, wo er eine Professur an der Technischen Hochschule annahm. Zwei Jahre danach verstarb der Dresdner Professor fur Technische Mechanik, Karl Wieghardt. Bei einem Besuch von Trefftz in Aachen erfuhr Blumenthal, dass Theodore von Karman auf Platz eins der Berufungsliste fur die Nachfolge Wieghardts stand.
Brouwer als Mitglied der Annalen-Redaktion (1919–1922)
Seit Juli 1914 gehorte Brouwer zur Annalen-Redaktion (siehe seinen Brief an Klein vom 10. Juli in Kap. 7, Band I). Wahrend des Krieges gab es allerdings nur wenig fur ihn zu tun, da Blumenthal im Kriegsdienst arbeitete. Klein und Hilbert haben in dieser Zeit mehrere Aufsatze uber die Relativitatstheorie geschrieben, aber sie erschienen nicht in den Annalen, sondern in den Gottinger Nachrichten. Nach Ende des Krieges konnten die Gottinger, aber vor allem Blumenthal zusammen mit Springer, die Zeitschrift wieder beleben.
Stellensuche im Ausland (1933–1938)
Die „Entfernung vom Lehramt“ traf Otto Blumenthal, wie er in seinem oben zitierten Brief vom 20. Dezember 1933 an Arnold Sommerfeld schrieb, hart, weil er „sehr gern unterrichtet und dem Unterricht viel zu viel Zeit und Kraft geschenkt“ habe (Abschnitt 9.2). Er vermisste seine Lehrtatigkeit sehr und suchte deshalb intensiv nach einer entsprechenden neuen Stelle, die er naturlich nur im Ausland finden konnte.
Brouwer und die Dimensionstheorie (1923–1924)
Im September 1923 fand die Jahrestagung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) in Marburg statt, bei welchem Anlass Paul Urysohn (1898–1924) einen Vortrag uber seine neue Dimensionstheorie hielt. Urysohn studierte vorher Brouwers fruhere Arbeit „Uber den naturlichen Dimensionsbegriff“ (Brouwer 1913a) und fand dabei, dass die Argumentation nicht fehlerfrei war. Urysohn erwahnte dies auf der Marburger Tagung, woraufhin Brouwer ihn ansprach, um eine schriftliche Erklarung zu bitten. Zu dieser Zeit war Otto Blumenthal Vorsitzender der DMV und Ludwig Bieberbach Schriftfuhrer ihrer Jahresberichte.
Emigration (1938–1939)
In der sogenannten Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938 wurde in Aachen, wie in vielen anderen deutschen Stadten auch, die Synagoge niedergebrannt, Geschafte wurden geplundert, und uber 70 Aachener Burger wurden verhaftet und in die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Unter ihnen war auch ein Sohn von Ludwig Hopf, der sich fur seinen Vater ausgegeben hatte (Muller-Arends 1995, 213). Otto Blumenthal blieb unbehelligt.