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AUTHOR
Bernhard Wiesemüller
Merkmale und ihre Variation
Die Darstellun des phylogenetischen Systems und seiner theoretischen Grundlagen ist mit dem vorigen Kapitel abgeschlossen worden, ohne das Merkmale in der bisherigen Diskussion eine wesentliche Rolle gespielt hatten. Da das phylogenetische System allein auf genetischen Beziehungen beruht, werden Merkmale erst bei der Rekonstruktion dieses historischen Systems bedeutsam. Alle Vorgange, die es begrunden, fanden in ferner Vergangenheit statt, und die Merkmale werden als Spuren dieser vergangenen Ereignisse interpretiert. Weil die Vererbung von Merkmalen nur innerhalb definierter Abstammungslinien moglich ist, lassen sie sich zur Rekonstruktion von Artspaltungsabfolgen heranziehen.
Mit der phylogenetischen Systematik konkurrierende Schulen
Neben der phylogenetischen Systematik gibt es zwei weit ere Schulen, die sich mit der Erstellung biologischer Systeme befassen. Wahrend die numeri sche Klassifikation ein streng typologisches System anstrebt, versuchen Vertreter der traditionellen evolutionaren Klassifikation, typologische und phylogenetische Prinzipien zu kombinieren.
Phylogenetische Systematik und Fossilien
Das phylogenetische System basiert auf Vorgangen, die sich in der Vergangenheit abgespielt haben. Daher erscheint die Annahme naheliegend, das Fossilien als konservierte Uberreste von Organismen, die in der Vergangenheit gelebt haben, fur die Rekonstruktion der Stammesgeschichte von groser Relevanz sein musten. Der Informationsgehalt von Fossilien uber die Phylogenese der Taxa ist im Gegensatz zu rezenten Formen, die allseits erforschbar sind, jedoch begrenzt (zu erkenntnistheoretischen Aspekten bei der wissenschaftlichen Bearbeitung von Fossilien siehe z. B. Popper 1968, 1974). Die Anzahl der fur entsprechende Analysen verfugbaren Fossilien ist verhaltnismasig klein und weist in der chrono…
Historisches zur biologischen Systematik
Wissenschaftliche biologische Klassifikationen haben eine lange Geschichte. Ein herausragender Autor der Antike war in diesem Zusammenhang der griechische Philosoph Aristoteles 384-322 v. Chr.), der die Biologie zu einer eigenstandigen Wissenschaft erhob und zoologische Schriften verfasste, die zur Grundlage einer systematischen Klassifikation der Tiere wurden (Harig u. Kollesch 1998). Eine Darste llung der historischen Entwicklungen seit der Antike wurde jedoch den Rahmen dieses Buches spre ngen, und so beginnen wir mit Carl von Linne, dem Begrunder der modernen Systematik, und beschranken uns auf Entwicklungen, die fur die heutige Systematik von einschneidender Bedeutung sind (siehe auch …
Individuen und ihre genetischen Beziehungen
Um die Struktur des phylogenetischen Systems zu verstehen, empfiehlt es sich, das man auf Individualebene beginnt und sich von dort zu den ubergeordneten Einheiten vorarbeitet. Genetische Beziehungen bestehen genaugenommen sogar innerhalb ein und desselben Individuums, was in der Praxis der Systematik nicht unerheblich ist, wie sich in Kap. 6 zeigen wird. Ferner existieren genetische Beziehungen zwischen verschiedenen Individuen einer Art, die sich aus ihrer Fortpflanzung ergeben. Auf ihrer Grundlage entstehen Beziehungsmuster zwischen Vorfahren und Nachkommen sowie zwischen Fortpflanzungspartnern. die die Basis fur die Erfassung hoherer Einheiten des Systems darstellen.
Das phylogenetische System
Arten konnen im Lauf der Zeit als Linien aufgefast werden, die durch Aufspaltungsereignisse gegeneinander abgegrenzt sind. Anhand der Abfolge solcher Aufspaltungen lassen sich Arten in einem hierarchischen System, dem phylogenetischen System, zusammenfassen. Nachfolgend werden wir uns zunachst mit dieser Hierarchie der Arten und ihren Einheiten befassen. Dann werden wir uns naher mit dem Gedanken zur Artbildung durch Hybridisierung auseinandersetzen, weil er die konsequ ent hierarchische Struktur des phylogenetischen Systems in Frage stellt.
Plesiomorphie und Apomorphie
Nicht alle Merkmale sind fur die Rekonstruktion der Phylogenese gleichermasen von Interesse. Eine wichtige Voraussetzung fur die Eignung eines Merkmals fur die Stammbaumrekonstruktion ist das Vorliegen deutlicher Unterschiede zwischen den verglichenen Taxa. Daruber hinaus ist aber auch nicht jede Ahnlichkeit ein Indikator fur phylogenetische Verwandtschaft. Denn nur Ahnlichkeiten in solchen Merkmalszustanden, die als abgeleiteter Zustand einer ursprunglicheren Alternative anzusehen sind, gelten als Beleg fur eine verwandtschaftliche Beziehung. Die Darlegung des Unterschiedes zwischen ursprunglichen (plesiomorphen) und abgeleiteten (apomorphen) Ahnlichkeiten ist Gegenstand des vorliegenden K…
Homoplasie und Merkmalskonflikte
Bei der phylogenetischen Bewertung von Merkmalsahnlichkeiten ist damit zu rechnen, das ahnliche Merkmalszustande mehrmals voneinander unabhangig entstanden sein konnen. Diese unabhangige Evolution ahnlicher Merkmale ist ein haufiges Phanomen, welches in der Praxis der Systematik zu inkongruenten Befunden fuhrt. Wenn verschiedene Merkmale nicht zu vereinbarende Synapomorphiehypothesen liefern, so kann es sich nur bei einem Teil der Merkmale um tatsachliche Synapomorphien handeln, wahrend die verbleibenden Merkmale Ahnlichkeiten infolge unabhangiger Evolution aufweisen mussen. Die Erorterung von Losungswegen fur solche Merkmal skonflikte ist Gegenstand dieses Kapitels.