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Das Wesen des unendlichen Prozesses

Gottfried KötheOtto Toeplitz

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Analytische Geometrie einerseits und Differential- und Integralrechnung oder, wie es umfassender und zutreffender heist, Infinitesimalrechnung andererseits sind die beiden hauptsachlichen Anfangervor-lesungen, die der mathematische Universitatsunterricht bei uns aufweist. Ihre gegenseitige Abgrenzung scheint durch den Namen allein hinreichend klargestellt: von Geometrie handelt die eine, von Rechnung die andere. Jedoch ist dieses Scheidungsprinzip nicht eigentlich stichhaltig; infinitesimale Prozesse konnen ebensogut an geometrische Gebilde angeknupft werden wie an rechnerische, und die Geometrie der Gebilde ersten und zweiten Grades in Ebene und Raum kann in einer rein rechnerischen Determinantenlehre gipfeln. Die wirkliche Trennungslinie zwischen beiden Bereichen wird dadurch markiert, das die Infinitesimalrechnung unendliche Prozesse vornimmt, die analytische Geometrie sie meidet; und diese Trennungslinie zieht sich uber den Bereich dieser Anfangervorlesungen hinaus durch die ganze Mathematik hindurch und ist die einzige ernstliche Scheide, die sich fur den Versuch einer Einteilung dieses Wissensgebietes darbietet. Je tiefer sich die Wissenschaft fortentwickelt, desto mehr tritt diese Scheide hervor, desto mehr wird die Trennung von Geometrie und Rechnung verwischt. Es wird darum unsere erste Aufgabe sein, das Wesen des unendlichen Prozesses als solches herauszuarbeiten, ehe wir in den weiteren Kapiteln an die systematische Untersuchung der einzelnen Spielarten von unendlichen Prozessen, wie Differenzieren, Integrieren, Summieren unendlicher Reihen usw., herantreten.

https://doi.org/10.1007/978-3-642-49782-7_1